Kinder
brauchen Chancen!
Reproduziert
die Schule soziale Ungleichheit?
Jedes
Individuum strebt nach einem hohen sozialen Status und hoher Lebensqualität. Um
dieses Ziel zu erreichen braucht man Bildung. Nur wer gebildet ist, kann die
gesellschaftlichen Möglichkeiten nutzen und die sozialen Risiken minimieren. In
unserer Gesellschaft sprechen wir auch gerne vorn Leistungsprinzip, d.h. wir
betrachten uns als Leistungsgesellschaft, in der derjenige etwas gilt, also
einen hohen sozialen Status besitzt, der etwas leistet. Unabhängig von seiner
Herkunft. So weit, so gut.
Wie
sieht es aber in der Realität aus? Ist die Herkunft in unserem Land wirklich
irrelevant für den sozialen Status? Herrscht in der Bundesrepublik
Chancengleichheit?
Beginnen
wir unsere Betrachtungen da, wo - nach Elternhaus und Kindergarten, die
ebenfalls einer Betrachtung wert wären, was hier aber zu weit führen würde -
der Grundstein für das Leistungsvermögen einer Person gelegt wird, nämlich in
der Schule. Theoretisch wird bereits dort schon alleine nach dem
Leistungsprinzip differenziert. Doch in der Praxis kann davon keine Rede sein.
Im Iglu-Test (der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung) konnte
festgestellt werden, dass die Chance eines Gymnasialbesuchs für das Kind eines
Managers bei gleicher Leistung 2,63 mal höher ist als für ein Arbeiterkind.
Unterproportional
vertreten
In
der Tat ist festzustellen, dass der erreichte Schulabschluss stark von der
sozialen und ethnischen Herkunft abhängt. Auch die PISA-Studie 2003 macht
deutlich, dass die Bildungschancen von Kindern umso höher sind, je besser ihre
Eltern gestellt sind (hoher Abschluss, hohes Einkommen). So wird angenommen,
dass Jugendliche, deren Eltern gering verdienen oder geringe schulische und
berufliche Qualifikationen haben, im Laufe ihrer Entwicklung Benachteiligung
erfahren werden. Tatsächlich erreichen diese Kinder schlechtere schulische
Ergebnisse, beteiligen sich weniger an schulischen und außerschulischen Aktivitäten
und Verlassen die Schule früher.
Dirigierungsstellefür
die Verteilung von Lebenschancen
Der
Soziologe Schelsky, der die Schule als "zentrale Dirigierungsstelle für
die Verteilung von Lebenschancen" ansieht, attestiert dieser deshalb,
"im höchsten Maße sozial ungerecht zu wirken". Tatsächlich ist
unsere Schule ein System, das soziale Ungleichheit produziert und indirekt
unterschiedlich große Lebenschancen verteilt. Denn durch die'
Ungleichbehandlung der Schüler nach ihrer Herkunft verschließt sie einem Teil
ihrer Schutzbefohlenen die Tür zu hohen Positionen, da sie diesen trotz
entsprechender Qualifikationen nicht die Möglichkeit gibt, die entsprechenden
Bildungszertifikate zu erwerben. Wissen ist der Schlüssel zur Zukunft – wenn
es nicht gelingt, einem Schüler ein ausreichendes Maß an Wissen und
Kompetenzen zu vermitteln, führt dies meist zu sozialer und beruflicher
Ausgrenzung.
Systematische
Benachteiligung
In
kaum einem anderen Land ist die soziale und ethnische Herkunft so
ausschlaggebend für die zukünftigen Lebenschancen von Kindern wie in
Deutschland. Zu Recht schreibt Gogolin, dass das Bildungssystem Mechanismen enthält,
die dazu führen, dass die "eigenen Staatsbürger" besser gestellt
sind als Menschen anderer staatlicher, sprachlicher oder kultureller Herkunft.
So werden die eigenen Staatsbürger/innen mit höheren Bildungsniveaus bzw. aus
bildungsnahen Schichten systematisch bevorzugt und Kinder aus Migrantenfamilien
oder auch Arbeiterfamilien bei der Einschulung in doppelt so hohem Umfang wie
Kinder aus mittleren und oberen Schichten zurückgestellt. Auch die
Lehrerempfehlungen beim Übergang von der Grundschule in die 5. Klasse fallen zu
Gunsten der bildungsnahen Oberschicht aus.
Um
es einmal salopp zu formulieren: Schreibt ein/e Schüler/in aus der Oberschicht
eine "fünf" wird dies als Faulheit eingestuft. Die gleiche Note gilt
bei einem/r Schüler/in aus der Unterschicht als Anzeichen für
"Dummheit". Die Gymnasialempfehlungen bestätigen diese Befunde: Die
Chance eines Jugendlichen aus den höheren Schichten, das Gymnasium anstelle
einer Realschule zu besuchen, ist fast sechsmal so hoch wie für Jugendliche aus
der Unterschicht. Vielerorts ist nicht das Leistungsvermögen, sondern das
Beherrschen der deutschen Sprache und der deutschen Mittelschichtkultur
ausschlaggebend für die Empfehlung für eine höhere Schule.
Mittelschichtorientierte
Leistungskriterien
Denn
die Kriterien für Schulerfolg orientieren sich an der deutschen
Mittelschichtkultur. Von Kindern aus der Unterschicht und/oder anderen Kulturen
wird dadurch eine außerordentlich belastende soziale Anpassungsleistung
gefordert, der sie oft nicht gewachsen sind. Desorientierung und Oemotivierung
sind das Resultat dieses Konfliktes, was wiederum zu schlechten Schulleistungen
und einer "Null-Bock-Haltung" führt. Somit bestimmen nicht die tatsächlichen
Fähigkeiten den Schulerfolg, sondern die soziale Anpassung an die
mittelschichtorientierten Leistungskriterien.
Während
also Eltern der Mittel- und Oberschicht ihre Kinder mit kulturellem,
wirtschaftlichem und sozialem Kapital fördern, fehlen den Unterschichtfamilien
diese Ressourcen. So formuliert Geißler "Der Widerstand der oberen
Schichten gegen den sozialen Abstieg ihrer Kinder ist stärker ausgeprägt als
der Wille der unteren Schichten zum Aufstieg." So ist die Angst der Mittel-
und Oberschichteltern, den eigenen Status durch einen niedrigen Schulstatus
ihrer Kinder zu verlieren, größer als die Hoffnung der Unterschichteltern,
ihren eigenen Status durch einen hohen Schulstatus ihrer Kinder zu erhöhen.
Denn ein hoher Schulabschluss bedeutet zugleich auch höhere Kosten.
Mangelnde
Förderung
Dazu
kommt, dass die Förderung in den verschiedenen Schulformen sehr unterschiedlich
ist. In einer höheren Schule wird man besser gefördert. Die Leseleistung wird
z.B. im Gymnasium viel stärker gefördert als in anderen Schulen. Auch die
Intelligenzentwicklung steigt im stark geförderten Gymnasium. So ist hier ein
doppelter Effekt zu sehen: Kinder, die durch ihre soziale und ethnische Herkunft
im Schulsystem benachteiligt sind, erhalten nach der Grundschule meist keine
Empfehlung für den Besuch einer höheren Schule und werden so auch in der
weiterführenden Schule wieder benachteiligt, da sie dort weniger gefördert
werden als ihre ehemaligen Mitschüler, die auf das Gymnasium kommen.
Der
Bielefelder Soziologie Elmar Lange hält diese frühe Übergangsentscheidung
nach der 4. Klasse für eine "wesentliche Ursache für die sehr starke
schichtspezifische Reproduktion sozialer Ungleichheit in Deutschland. Je früher
die Auslese von Schülern stattfindet, desto stärker ist die Produktion
beziehungsweise Reproduktion von sozialer Ungleichheit". Denn ein
niedrigerer Bildungsabschluss kann sich ein Leben lang auf die berufliche
Karriere und persönliche Entwicklung eines Menschen auswirken.
Institutionalisierte
Diskriminierung
Damit
es nicht missverstanden wird: Es ist nicht das Individuum, z.B. der/die
Lehrer/in oder der/die Schulleiter/in, der/die diskriminiert, sondern das
"Netz von Institutionen". So erhalten bestimmte soziale Gruppen in
spezifischen institutionellen Arrangements systematisch weniger Belohnungen, als
klar identifizierbare Vergleichsgruppen. Geißler bezeichnet dies als
leistungsunabhängigen sozialen Filter, der im Bildungssystem wirksam ist. Es
sind also diese unbewussten Mechanismen institutionalisierter Diskriminierung im
System, die abgebaut werden müssen.
Wir
müssen einen gleichberechtigten Zugang zu gesellschaftlichen Gütern, wie z.B.
Bildung sicherstellen, denn Menschen ohne Bildungschancen - seien es
Migrantenkinder oder Kinder aus der Unterschicht - werden aus der Gesellschaft
ausgegrenzt. Das ist das Gegenteil der viel beschworenen Integration. Diese
Ausgeschlossenen haben keine Möglichkeiten, sich an ihrem sozialen Umfeld zu
beteiligen. Indem man diese Menschen systematisch aus Bildung und Politik
ausschließt, lässt man zu, dass sie sich abgrenzen. Auf Dauer führt dies zu
Formung von Parallelgesellschaften, die weder von den Ausgeschlossenen noch von
der Mehrheitsbevölkerung gewünscht werden.
Chance
für die Gesellschaft
Dabei
können Menschen, die nicht in die Norm der Mehrheitsgesellschaft passen,
durchaus eine Chance für die Gesellschaft darstellen. Nehmen wir einmal das
Beispiel der Migranten: Selbstverständlich ist die deutsche Sprache
Grundvoraussetzung zur Teilhabe an der Gesellschaft. Aber die vorhandene
Mehrsprachigkeit ist genauso ein Kapital, dass man sowohl für die Wirtschaft
als auch für die Politik und die Gesellschaft positiv und effektiv verwenden
kann. Statt aber die vorhandene Mehrsprachigkeit (Türkisch, Russisch) zu fördern,
wird eine künstliche Mehrsprachigkeit (Französisch, Englisch) erzeugt. Hier
verschwendet man einen großen Teil an Zeit, Geld und Humankapital. Zudem führt
die Ausblendung dieser Kompetenz zu folgenschweren Misserfolgen dieser Schüler.
Cemil Sahinöz
erschienen
in: Zukunft. Nr.6,
Dezember 2006, S.68-71