Integrationsparadoxon
Nach Eliot Freidson (1979, S.141) ist „das Ziel des praktischen Arztes nicht Wissen, sondern Handeln. Am liebsten möchte er erfolgreich handeln, aber selbst ein Handeln mit sehr wenig Aussicht auf Erfolg wird dem völligen Nichthandeln noch vorgezogen.“ Und Voltaire werden die Worte zugeschrieben: „Ärzte schütten Medikamente, von denen sie wenig wissen, zur Heilung von Krankheiten, von denen sie weniger wissen, in Menschen, von denen sie nichts wissen.“ Eine wesentliche Aufgabe des Arztes ist es, der Krankheit des Patienten einen Namen zugeben. Dies ist außerordentlich wichtig, denn so zeigt der Arzt, dass er das Problem erkannt hat und nun versuchen wird, es zu lösen. Gesundheit ist für den Arzt kein interessantes Wissensfeld. Oder, mit den Worten des Soziologen Niklas Luhmann: „Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist“ (Luhmann 1990, S.197).
Diese Betrachtungsweise lässt sich auch auf die Integrationsfrage anwenden. Durch die gewaltsamen Proteste von Jugendlichen fremdländischer Herkunft in Frankreich im Winter 2005 ist mit einem Mal die Krankheit namens „großes Migrationsproblem“ in ganz Europa in den Fokus gerückt; Politik und Medien stürzen sich drauf. Kommunen richten Integrationsämter ein, ernennen Integrationsbeauftragte und verabschieden Integrationskonzepte. Alles, was mit Integration zu tun hat, ist positiv. Integration ist jetzt „in“.
Die Diskussion um die
Integration, die sich bisweilen ohne Fortschritt im Kreis zu bewegen scheint,
verwendet ähnlich wie im Fall der Diagnosen stellenden Ärzte bestimmte
Begriffe, um Sachlagen und Tatsachen zu beschreiben und sich dem „Problem der
Migranten“ zu nähern. Dabei werden
immer wieder neue Begriffe eingeführt und alte, wie um zu zeigen, dass man das
Problem nun aber wirklich erkannt habe und es somit beseitigen könne. Anstelle
des Begriffes „Migranten“ wird heute in politisch korrekten Kreisen
beispielsweise die Bezeichnung „Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“
verwendet. Für die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit „Migranten“ konnte
man keine Lösungen finden. Also wurde ein neuer Begriff eingeführt, mit dem es
hoffentlich besser klappt. Doch die neuen Begrifflichkeiten sind kein
Wunderheilmittel, sie lassen lediglich das eigentliche Problem verblassen. Sie
kommen nicht an gegen Schlagwörter wie „Kampf der Kulturen“ oder
„Parallelgesellschaft“, die schon längst ein Eigenleben entwickelt haben.
Alle
reden, nur keiner weiß wovon
Wie ist Integration
überhaupt zu definieren? Als „Prozess, bei dem verschiedene Teile zu einem
neuen Ganzen zusammengefügt werden“, lautet die Antwort von Volker Meißner
(2003, S.138), dem Geschäftsführer des Arbeitskreises Integration im Bistum
Essen. Ihm zufolge ist „Ziel der Integration [...] die gleichberechtigte
wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe der
Zuwanderer in der aufnehmenden Gesellschaft“ (Meißner, 2003, S.139). Der
Soziologe Bernhard Schäfers versteht unter Integration die Entstehung von
gleichgewichtigen Interdependenzen zwischen Personen und Gruppen, was man unter
Integration versteht (Schäfers, 2003, S.3). Minderheit und Mehrheit treffen
aufeinander, wobei ein Prozess des Austauschs entsteht, dessen Ergebnis eine
Gesellschaft ist, die an kulturellem Reichtum gewonnen hat. Nach Ansicht des
Soziologen Hartmut Esser (1980, S.213) „gelingt“ dieser Prozess nur dann,
wenn die Integration kognitiver, struktureller, sozialer und identikativer Ebene
in den Blick genommen werden. Luhmann dagegen meidet den Begriff der Integration
und ersetzt ihn mit Inklusion/Exklusion (Luhmann, 1995). Er geht davon aus, dass
eine Integration nur in Teile eines Systems oder einer Gesellschaft nicht möglich
ist. Stattdessen findet entweder eine Inklusion, also eine generelle Teilnahme
an den verschiedenen Bereichen des Ganzen, oder eine Exklusion, also eine
„Nichtteilnahme“, statt.
Es hat den Anschein,
als gäbe es bereits so viele Definitionen von „Integration“ wie es Menschen
gibt. Dennoch ist in jüngster Zeit eine weitere Variante dieses Begriffes
aufgetaucht: die „gelungene Integration“. Diese wird vielerorts oftmals mit
dem Erlernen der Sprache der Mehrheitsgesellschaft und der „Mitbeteiligung“
(die meist nicht weiter definiert wird) an ebendieser gleichgestellt. Auch wenn
dieser Ansatz immer noch recht vage und unklar ist, ist es jedoch noch viel
schwieriger, zu versuchen, das Gegenteil zu definieren, nämlich „ungelungene
Integration“. Auf einer Veranstaltung zum Thema Integration habe ich die Frage
nach der „ungelungenen Integration“ gestellt. Die Leiterin reagierte darauf
mit der Bemerkung, dies sei nicht das Thema, sondern „gelungene
Integration“. Ich persönlich frage mich jedoch, wie man das eine verstehen
soll, ohne zu wissen, was das andere ist.
Ein weiterer
Begriff, der häufig für Unklarheit sorgt, ist die „Mitbeteiligung“ an der
Gesellschaft. Es ist ein abstrakter Begriff, der unterschiedliche verstanden
wird. Für die einen verbirgt sich dahinter das Tragen eines Deutschlandtrikots,
für die anderen der Verzehr von deutschen Speisen und Gerichten. In der Tat
sollten Aussiedler aus Russland in den 1990er Jahren in einem Fragebogen
angeben, was sie zu Hause essen, daraus sollte geschlossen werden, ob der
Fragebogenbeantwortet deutscher Abstammung sei. Wer viele Kartoffeln im Hause
hatte, galt als Deutscher!
Wollen oder Können?
Bleiben
wir jedoch bei Luhmanns Konzept der Inklusion und der Exklusion. Ein großer
Teil der Migranten empfindet sich als von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie
sehen keine Möglichkeiten für eine "Beteiligung" in ihrem sozialen
Umfeld. So haben Kinder aus Migrantenfamilien in Deutschland schlechtere
Bildungschancen und damit auch später schlechtere Chancen für eine
Gesellschaftsbeteiligung in vielen Lebensbereichen. Rückzug und Abgrenzung
werden vorprogrammiert. Und selbst diejenigen unter den Migranten, die
erfolgreiche Ausbildungen absolvieren, werden ausgeschlossen. Zum Beispiel
Frauen, die aus
religiösen
Gründen ein Kopftuch tragen, und deswegen keine Anstellung finden. Dazu die
Journalistin Ulla Jelpke: "Gebildete Frauen, die ihre islamische Tradition
praktizieren, werden dadurch einem Berufsverbot ausgesetzt, ihrer ökonomischen
Existenz beraubt und in die Abhängigkeit von ihren Familien zurückgedrängt.
Zugleich wird aber lautstark die fehlende Unabhängigkeit von Musliminnen
beklagt. Diese staatliche Repression trifft genau die Schwächsten, nämlich die
in islamischer Tradition stehenden Frauen, die ohne das Kopftuchverbot ihr
eigenes Glück schmieden könnten." Zudem: Wird beispielsweise einer
ausgebildeten Lehrerin das Unterrichten wegen des Kopftuchs verboten, fehlen
kopftuchtragenden Schülerinnen auch Identifikationsfiguren für eine
"gelungene" Integration.
Menschen,
die sich auf diese Weise ausgeschlossen sehen, verstehen die
Integrationsforderungen in Deutschland verständlicherweise eher als
Assimilationsforderungen und verweigern sich diesen. Politik und Medien
interpretieren das dann als "Verweigerung der gesellschaftlichen
Teilhabe" (also nicht als fehlendes Können, sondern als fehlendes Wollen).
Die, die es schwer haben, einen Weg in die Gesellschaft zu finden, werden selbst
dafür verantwortlich gemacht. So werden zunehmend Parallelgesellschaften
produziert, obwohl man genau dies doch vermeiden wollte. Ein Beispiel für eine
solche Exklusion von Migrantengruppen bietet ein klassische Problem der
islamischen Minderheit in Deutschland: Da die Erbauung neuer Moscheen nur sehr
bedingt genehmigt wird, ziehen sich die Muslime oft zurück und eröffnen
"Hinterhofmoscheen" - und dann heißt es lauthals:
"Parallelgesellschaft".
Eine
vereinfachte Darstellung des komplexen und vielschichtigen Integrationsparadoxes
könnte wie folgt aussehen: Menschen wanderten nach Deutschland ein. Sie wurden
jedoch nicht als Einwanderer betrachtet, sondern als Gastarbeiter. Dabei hatte
das Wort "Gastarbeiter" nichts mit dem Begriff "Gast" oder
"Gastlichkeit" zu tun, es sollte lediglich ausdrücken, dass hier ein
Wirtschaftsfaktor angereist war, der seinen Hut wieder nehmen würde, sobald er
als Wirtschaftsfaktor ausgedient hätte. Eine Integration dieser
Wirtschaftsfaktoren war nicht vorhergesehen, entsprechende Möglichkeiten wurden
nicht geboten, entsprechende Bemühungen nicht gefordert. Als die Einwanderer
als Wirtschaftsfaktor ausgedient hatten und plötzlich wieder als Menschen
erkannt wurden, entdeckte man, dass sie - trotz der langen Zeit, die sie im
Lande verbracht hatten - anders waren. Sie hatten zum großen Teil immer noch
eine dunklere Hautfarbe, aßen keine großen Mengen Kartoffeln und manche von
ihnen hingen auch noch einer fremdartigen Religion an, die sie hierzulande ausüben
wollten. Da sie und ihre Kinder es zudem in vielen Lebensbereichen (Bildung,
Beruf, Wohnungssuche) schwerer hatten, tauchten sie auch überproportional in
traurigen Bilanzen auf (geringe Bildungsabschlüsse, Arbeitslosigkeit, Wohnen in
Ghettos). Diese negativen Rekorde und ihre Andersartigkeit schrieb man ihrem
Desinteresse und ihrer Gleichgültigkeit, ja gar Feindseligkeit gegenüber der
Mehrheitsgesellschaft zu.
Nun
setzt die Politik alles Mögliche in Bewegung - meist in Wort, manchmal auch in
der Tat - um diese Menschen zu integrieren. Da jedoch trotz all der vielen Worte
noch nicht definiert worden ist, wie diese Integration denn aussehen soll, wird
es von deutscher Seite oft so verstanden, dass es sich hierbei um eine Anpassung
an die deutschen Lebensgewohnheiten auch in so individuellen und persönlichen
Bereichen wie Kleidung, Essen und Religionsausübung handele. Manche Migranten
sehen das auch so, fühlen sich unter Assimilationsdruck und weichen zurück. 50
lange diesem Verständnis von Integration keine klare Definition gegenübergestellt
wird, besteht die Gefahr, dass gerade die Forderung nach Integration zum
Gegenteil führt.
Integrationsverhinderungsmaßnahmen
Auch
wenn es um den Spracherwerb geht, sind paradoxe Anforderungen zu beobachten. Das
Beherrschen der deutschen Sprache wird als Grundvoraussetzung zur Teilhabe an
der Gesellschaft ebenso gefordert wie die Beherrschung von weiteren Sprachen, um
in der globalisierten Welt wettbewerbsfähig zu sein. Die bereits vorhandene
Sprachkompetenz der Zuwanderer als Kapital, das man sowohl für die Wirtschaft
als auch für Politik und Gesellschaft positiv und effektiv verwenden kann, wird
dabei ignoriert. Anstatt vorhandene Fähigkeiten zu fördern, wird eine künstliche
Mehrsprachigkeit (Französisch, Englisch) erzeugt und so Zeit, Geld und
Humankapital verschwendet. Zudem führt die Ausblendung dieser Kompetenz zu
folgenschweren Misserfolgserlebnissen von Schülern. Die Kürzung von
Lehrstellen für den muttersprachlichen Unterricht kann vor diesem Hintergrund
nur als großer
Fehler
bezeichnet werden.
Ein
weiteres Problem, dessen Quelle zum größten Teil die Medien sind, ist die
Skandalisierung von Migrantenproblemen unter Schlagworten wie "Zwangsheirat
im Islam". So wird ein verzerrtes Bild der Realität wiedergegeben. Die
tatsächlichen Lebensrealitäten der Migrantenmehrheit, in der beispielsweise
der Partner selbst gewählt wird, werden dabei völlig
ignoriert
und unter unangemessenen Schlagzeilen subsumiert. Lebenszusammenhänge werden
auf das Extreme beschränkt. Skandale werden auf den Titelseiten (nicht nur) der
Boulevardpresse als Regelfall verkauft. Auch hier wird eher auf eine Exklusion
als auf eine Inklusion hingearbeitet: Die Gesellschaft wird aufgeteilt in
"wir" und "sie". "Wir“ das sind die Abendländer aus
dem Okzident. "Sie" sind die Morgenländer aus dem Orient, die
belehrt, aufgeklärt und von ihrer Unwissenheit befreit werden müssen. Diese
beiden künstlichen Gruppen, werden als einheitliche und unveränderbare Größen
dargestellt.
Fazit
Solange
nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen ein gleicher und gerechter Zugang zu
allen Lebensbereichen, wie z.B. der Bildung, gewährleistet ist, werden sich
Migranten immer wieder die Frage stellen, wie und in was sie sich integrieren
sollen. Viele Integrationsarbeiter bemühen sich nach Kräften und gleichzeitig
scheint es zweifelhaft, ob ihr guter Wille von der Politik geteilt und
ausreichend unterstützt wird. Die bloße Schaffung von Integrationsbeauftragten
und –büros wird keinen Fortschritt bringen. Ebenso wenig hilft es weiter,
wenn wir uns bei der Migrationsdebatte von Ideologien und überhitzten Gefühlen
leiten lassen, sonst landen wir schnell in der Sackgasse, die weiter permanent
"Parallelgesellschaften" produziert. Was wir brauchen ist Wissen.
Wissen darüber, was wir eigentlich unter Integration verstehen und Wissen über
die Gesellschaft und die Menschen, um die es bei der Integration geht.
Cemil Sahinöz
erschienen in: Zukunft, Nr.11, Mai 2007, S.56-59