Integrationsparadox
Nach Freidson (1979, S.141) ist „das Ziel des praktischen Arztes nicht Wissen, sondern Handeln. Am liebsten möchte er erfolgreich handeln, aber selbst ein Handeln mit sehr wenig Aussicht auf Erfolg wird dem völligen Nichthandeln noch vorgezogen.“ Der Arzt ist dazu verpflichtet, dem Patienten zu helfen. Voltaire soll einmal gesagt haben: „Ärzte schütten Medikamente, von denen sie wenig wissen, zur Heilung von Krankheiten, von denen sie weniger wissen, in Menschen, von denen sie nichts wissen.“ So stehen die Interessen des Patienten vor den eigenen Interessen stehen. Der Arzt muss zwar kein Erfolg garantieren, aber eine Bemühung um die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit oder um Verminderung des Leidens ist eine unschriftlich gegebene Garantie. Eine wesentliche Aufgabe dabei ist es, der Krankheit des Patienten einen Namen zugeben. Dies ist außerordentlich wichtig. So zeigt der Arzt dem Patienten, dass er das Problem erkannt hat und nun versuchen wird, dieses Problem zulösen. Daher kann der Arzt zunächst einmal mit der Gesundheit nichts anfangen. „Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist“ (Luhmann 1990, S.197).
So entwirft der
Integrationsdiskurs, der sich in einem Teufelskreis zu drehen scheint, immer
wieder neue Begriffe, um sich dem „Problem der Migration“ zu nähern. Dabei
werden, ähnlich wie Ärzte (siehe oben) Begriffe neukonstruiert, um Sachlagen
und Tatsachen zu beschreiben. Es werden dauernd
neue Begriffe eingeführt, oder alte Begriffe ersetzt, um zu zeigen, „Wir
haben das Problem erkannt. Jetzt können wir es beseitigen“. Bald wird z.B. anstelle
des Begriffes „Migranten“ die Bezeichnung „Menschen mit
Zuwanderungsgeschichte“ verwendet. Denn das Wort „Migranten“ ist veraltet.
Man konnte keine Lösungen für Migranten finden. Also führt man ein neuer
Begriff ein. Dies sind Begrifflichkeiten, die das eigentliche Problem
verblassen lassen. So haben Schlagwörter wie „Integration“, „Migration“
und „Parallelgesellschaft“ schon ein Eigenleben entwickelt.
Allgemein wird
Integration verstanden als ein „Prozess, bei dem verschiedene Teile zu einem
neuen Ganzen zusammengefügt werden“ (Meißner, 2003, S.138). Es ist die
Entstehung von gleichgewichtigen Interdependenzen zwischen Personen und Gruppen,
was man unter Integration versteht (Schäfers, 2003, S.3). Minderheit und
Mehrheit treffen aufeinander. Es entsteht ein Prozess des Austauschs, dessen
Ergebnis eine Gesellschaft ist, die an kulturellem Reichtum gewonnen hat.
„Ziel der Integration ist die gleichberechtigte wirtschaftliche,
gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe der Zuwanderer in der
aufnehmenden Gesellschaft“ (Meißner, 2003, S.139). Nach dem Soziologen
Hartmut Esser (1980, S.213) „gelingt“ dieser Prozess nur dann, wenn
kognitive, strukturelle, soziale und identikative Integration in den Blick
genommen werden. Luhmann dagegen, benutzt den Begriff der Integration gar nicht
und ersetzt ihn mit Inklusion/Exklusion (Luhmann, 1995). Er geht davon aus, dass
eine Integration in funktional, differenzierte Teilsysteme nicht möglich ist.
Stattdessen findet eine Inklusion, also „Teilnahme von Personen an den
jeweiligen Leistungen der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilsysteme und
Organisationen“ (Schäfers, 2003, S.154), oder eine Exklusion, die
Nichtteilnahme, statt.
Mal abgesehen davon,
welche Probleme die Semantik Integration herbringt und dass es genauso viele
Definition von Integration gibt, wie viele Menschen es gibt, wird in der
Gegenwart eine neue, eben genannte, Semantik erstellt: Gelungene Integration.
Vielerorts wird
dieser neue Begriff „gelungene Integration“ oftmals mit Erlernen der Sprache
und „Mitbeteiligung“ (was immer das auch sein mag) an der Gesellschaft
gleichgestellt. Viel schwieriger wird es, wenn man versucht das Gegenteil, nämlich
„ungelungene Integration“, zu definieren. Hier macht der Diskurs erst einmal
halt. Denn es wäre tödlich, die Nichtkenntnis einer Sprache als ungelungene
Integration gleichzustellen.
Beispiel: Die
Mitglieder einer bestimmten Gruppe in Deutschland werden als „gelungene
Integration“ bezeichnet, obwohl ein großer Teil der Gruppe sehr wenig
deutsch spricht. Grund hierfür sind viele Bildungseinrichtungen dieser
Gruppe, die vom Staat erlaubt sind und in denen kein Deutsch gesprochen wird.
Tatsächlich habe ich
die Frage nach der „ungelungenen Integration“ in einer wichtigen
„Integrationsveranstaltung“ gefragt. Die Leiterin hat sofort blockiert, dies
wäre doch nicht unser Thema, sondern gelungene Integration. Fraglich ist,
wie man gelungene Integration verstehen soll, ohne zu wissen, was ungelungene
Integration ist.
Neben dem
Semantik-Problem ist die eben erwähnte „Mitbeteiligung“ ein weiteres
Paradox des Diskurses. Die „Mitbeteiligung an der Gesellschaft“ ist ein Phänomen,
dass von Niemandem so wirklich verstanden wird. Es ist eher ein abstrakter
Begriff. Für die Einen ist die Teilnahme „das Tragen eines
Deutschlandtrikots“ für die Anderen „Verzehr von deutschen Speisen und
Gerichten“. In der Tat wurde in den 90er Jahren den Aussiedlern aus Russland
in einem Fragebogen abgefragt, was sie zu Hause für Essen kochen. Dies sollte
als Anzeichen für die deutsche Abstammung gelten. Wer also viel Kartoffel zu
Hause hatte, galt als Deutscher!
Diese
Ausgeschlossenen schließen sich nun in einem zweiten Schritt selber noch einmal
aus und sehen (jedenfalls die deutsche) Integration eher als Assimilation, was
ein weiteres Paradox zur Integrationspolitik ist. Diese Tatsache wird aber von
der Politik und besonders von den Medien (teilweise bewusst) übersehen, so dass
dieses Phänomen einfach als „Verweigerung
gesellschaftlicher Teilhabe“ bezeichnet wird. Sie schieben die
Schuld also denen zu, die sie selber aus der Gesellschaft und der Politik
permanent ausschließen. „Kulturkonflikt“ oder „Leben zwischen den
Welten“ sind die Argumente, die benutzt werden, um zu externalisieren (in
Bezug auf Bildung siehe Radtke, 1996). So wird z.B. die muslimische Kultur
als Fremdkörper aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Es werden zunehmend
mehr Parallelgesellschaften produziert, obwohl man diese doch bekämpfen wollte.
Beispiel für
dieses Paradox: Die Erlaubnis für Moscheebauten wird nur sehr bedingt
erteilt. Deshalb ziehen sich die Muslime zurück und eröffnen
„Hinterhofmoscheen“, die dann als Zeichen einer Parallelgesellschaft
gedeutet werden.
1.)
Gastarbeiter,
Migranten kamen nach Deutschland.
2.)
Sie wurden nicht als Gäste
gesehen, sondern als Maschinen, aus denen Nutzen gezogen werden konnte.
Sie waren also wichtige Wirtschaftsfaktoren, die man ausbeuten konnte (eine
Legitimation dafür findet man im Sozialdarwinismus).
3.)
Sie
hatten keine Chance, sich zu integrieren.
4.)
Da
sie sich nicht integrieren konnten, schrieb man ihnen Feindlichkeit,
Andersartigkeit, Desinteressiertheit und Gleichgültigkeit an der
Mehrheitsgesellschaft zu.
5.)
Nun
versucht die Politik sie doch zu integrieren, da sie sonst zu einem
„Problem“ werden.
6.)
Diese Integration ist aber keine
Anpassung mehr, sondern eher eine Aufgebung der eigenen Identität und Aufnahme
einer völlig neuen, nämlich der deutschen Identität. Also eine
Assimilationspolitik. (Man sollte sich mal die psychologische Situation dieser
Menschen vorstellen. Teilweise müssen Russlanddeutsche ihre Namen ändern, weil
diese nicht Deutsch klingen. Namen sind Identität. In dem sie abgelegt werden,
beginnt eine neue Identität. Dadurch kommen viele Jugendliche in eine Identitätskrise
und werden ein Problem für die Gesellschaft. Nun wirft man diesen Menschen
vor, sie würden sich nicht integrieren, obwohl man ihnen jede Chance zur
Integration weggenommen hat.)
Das gleiche paradoxe
Verhalten finden wir in der Thematik „Deutsche Sprache“. Selbstverständlich
ist die deutsche Sprache Grundvoraussetzung zur Teilhabe an der Gesellschaft.
Aber die vorhandene Mehrsprachigkeit ist genauso ein Kapital, dass man sowohl für
die Wirtschaft als auch für die Politik und die Gesellschaft positiv und
effektiv verwenden kann. Stattdessen wird aber künstlich Mehrsprachigkeit
(Französisch, Englisch) erzeugt, obwohl eine vorhandene Mehrsprachigkeit (Türkisch,
Russisch) nicht gefördert wird. Hier verschwendet man einen großen Teil an
Zeit, Geld und Humankapital. Zudem führt die Ausblendung dieser Kompetenz zu
folgenschweren Misserfolgen dieser Schüler. Daher ist die Kürzung der
Lehrstellen für den muttersprachlichen Unterricht ein großer Fehler (vgl. LAGA
NRW, 2005).
Ein anderes Problem,
dessen Quelle zum größten Teil die Medien sind, sind die Skandalisierungen von
Migrantenproblemen. So wird ein verzerrtes Bild der Realität wiedergegeben
(z.B. Thema „Zwangsheirat im Islam“; obwohl im Islam eindeutig die Zwangsehe
verboten ist, wird dies als ein Teil des Islams gezeigt). Lebensrealitäten von
Migranten werden dabei völlig ignoriert und unter unangemessenen Headlines
subsumiert. Diese einseitige und verallgemeinernde Problematisierung von
Eingewanderten „wirkt sich negativ auf das Verhältnis von Mehrheit und
Minderheit aus und hat einen kontraproduktiven Effekt in Bezug auf die
Integration“ (Leiprecht, Lutz, 2006, S.9). Lebenszusammenhänge werden auf
das Extreme beschränkt. Skandale werden gefeiert (siehe Necla Kekek oder
Yaan Hirsi Ali).
Die Gesellschaft wird
dichotomisiert in „wir“ und „sie“ (Broden,
2006, S.8). „Wir“, das sind sie Abendländer aus dem Okzident. „Sie“,
sind die Morgenländer aus dem Orient, die belehrt, aufgeklärt und von ihrer
Unwissenheit befreit werden müssen. Diese beiden künstlichen Gruppen, werden
als „einheitliche und unveränderbare Größen“ (Leibrecht, Lutz, 2006,
S.10) dargestellt.
Fazit:
Solange kein gleicher
und gerechter Zugang zu gesellschaftlichen Gütern, wie z.B. die Bildung (siehe
diese Problematik ausführlicher: Lange, 2004; Baumert,
Watermann, Schümer, 2003; Bommes, Radtke, 1993; Gogolin, 2002; Gomolla, 1998;
Gomolla, Radtke, 2000; Radtke, 1996; Sahinöz, 2006),
gewährleistet wird und Chancen vorenthalten werden, werden sich die Migranten
immer wieder fragen: „Wem sollen wir uns integrieren? Sie geben uns keine
Wohnungen, keine Arbeit und keine Bildung“.
Dabei will ich den
guten Willen vieler Integrationsarbeiter gar nicht unterstellen. Allerdings ist
es eine Tatsache, dass ihr guter Wille von der Politik nicht geteilt wird und
obendrein ausgenutzt wird. Die Politik arbeitet in eine andere Richtung. Aber
mit der dürftigen Aufstellung von Integrationsbeauftragten und –büros wird
das eigentliche Desinteresse verschleiert.
So darf die Migrationsdebatte nicht ideologisch und emotional geführt werden, da sie sonst zu einer Sackgasse führt, dass permanent „Parallelgesellschaften“ produziert.
Cemil Sahinöz
Literatur:
·
Baumert J.,
Watermann R., Schümer G.: Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des
Kompetenzerwerbs. Ein institutionelles und individuelles Mediationsmodell. In:
Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 6. Jhrg. Heft 1/2003, S.46-72
·
Gogolin I.:
Sprachlich-kulturelle Differenz und Chancengleichheit – (un-)versöhnlich in
staatlichen Bildungssystemen? In: Lohmann I., Rilling R. (Hrsg.): Die verkaufte
Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule,
Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. L+B: Opladen, 2002, S.153-168
·
Gomolla M.,
Radtke F.-O.: Mechanismen institutionalisierter Diskriminierung in der Schule.
In: Gogolin I., Nauck B. (Hrsg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung
und Bildung. Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER. Leske +
Budrich: Opladen, 2000, S.321-341
·
Gomolla M.:
Institutionalisierte Diskriminierung in der Schule. Ein
organisationstheoretischer Erklärungsansatz. In: Das Argument, 224 / 1998,
S.129-143