Neun Aspekte des Fastens
Die deutschsprachige Übersetzung von ‚Abhandlung über Ramadan’
aus Mektubat (Die Briefe) von Bediuzzaman Said Nursi.


 

 

Der erste Aspekt:
         Das Fasten im Monat Ramadan ist eine der fünf Säulen des Islam. Es ist gleichzeitig eine der markantesten Äußerungen der islamischen Lebensart. Das Fasten im Monat Ramadan birgt viele Geheimnisse in sich. Es ist eine Vergegenwärtigung der Herrschaft Gottes im Bewusstsein des Menschen. Es dient der Stärkung des sozialen Empfindens und reguliert das persönliche Leben der Gläubigen. Der Ramadan ist gleichzeitig eine Schule der Selbstdisziplin und eine Zeit der kraftvollen Dankbezeigung für die von Allah erhaltenen Gaben.    Wie wird nun der göttliche Herrschaftsanspruch den Gläubigen durch das Fasten in Bewusstsein gerufen? Der allmächtige Gott hat die Erdoberfläche zu einer Tafel voller Gaben für die Menschen gemacht. Auf dieser Tafel bieten sich alle erdenklichen Spielarten Seiner Gnade an. Sie zeugen von Seiner Herrlichkeit, Seiner Großmut und Seiner Liebe. Die Menschen, in Trägheit verfallen und von äußeren Ursachen und Wirkungen geblendet, übersehen meist völlig diese Tatsache. Im Monat Ramadan indessen unterstellen ich die Gläubigen mit einem Schlag wie eine gut organisierte Armee einem einzigen Befehl: sie alle warten tagtäglich bis zur beginnenden Abenddämmerung auf die Aufforderung des ewigen Sultans: "Bitte greift zu!" Die Mitglieder dieser gewaltigen Armee stellen dadurch ihren Gehorsam Allah gegenüber unter Beweis. Sie erwidern auf diese Weise die empfangene großartige Gnadenfülle mit einer tiefen, entschlossenen und geordneten Frömmigkeit. Darf man wohl jene Menschen, die daneben stehen und sich dieser Dankbezeigung verschließen, ihres menschlichen Namens für würdig erachten?


         Der zweite Aspekt:

Einen weiteren tiefen Sinn des Fastens ersieht man aus folgendem Gleichnis: Alle Speisen, die ein Speisenträger aus der kaiserlichen Küche holt, haben ihren Preis. Hat man dem Speisenträger auch ein Trinkgeld gegeben, so ist es dennoch höchst ungebührlich jenes Mannes nicht zu gedenken, der die Speisen spendet. Täte man so, so hieße es, seine Gaben geringachten. Nun hat der liebe Gott zu Gunsten des Menschen unzählige Gaben über die Erde ausgebreitet. Es erfordert der primitivste Anstand, die Einnahme dieser Gabe mit Dank zu quittieren.


         Der Augenblick der Überraschung der Speichen und die äußeren Umstände ihrer Einnahme liegen im Entscheidungsbereich des Speisenträgers. Wir zahlen diesem auch ihren Preis. Wir sind ihm für die erfolgte Versorgung auch meist dankbar. Unser Dank geht zuweilen über das erforderliche Maß Hinaus, je nach den Umständen, unter denen wir die Speisen einnehmen. In Wirklichkeit aber gebührt der Dank einem anderen Versorger: jenem, der uns die Speisen und andere Gaben in unzähligen Spielarten und in einem Maß, das keine Grenzen kennt, schenkt. Ihm sollte der Dank gelten. Es ist von Nöten, zu wissen, dass jene Gaben von ihm kommen. Ihren Wert darf man nicht bagatellisieren. Sie sind ja aus dem Lebensplan des Universums nicht wegzudenken. Nun ist das Fasten im Monat Ramadan ein Schlüssel zu dieser elementaren Dankbarkeit, und zwar in einer Weise, die in Entschlossenheit und Ganzheit nichts zu wünschen übrig lässt. Zu anderen Zeiten, da es an einem selbstauferlegten Zwang fehlt, ist der Mensch kaum in der Lage, den eigentlichen Hunger kennen zu lernen und so in einem permanenten Zug den Wert, der ihm durch diesen Verzicht entzogenen Speisen, zu erkennen. Den Satten wird nicht so leicht klar wieviel Gnade sich allein in einem trockenen Stück Brot verbirgt - dies um so weniger, als sie reich und für das soziale Elend abgestumpft sind. Beim ersten Versuch, den Hunger zu stillen, wird indessen dem Gläubigen im Ramadan allabendlich klar, was für eine wertvolle Gabe jenes trockene Stück Brot ist. So empfindet im Ramadan jeder - der Arme in seiner schäbigen Hütte wie der König im Palast - die Dankbarkeit. Ihr Sinn für die Werte wird wachgerufen. Das Gefühl der echten Dankbarkeit stellt sich ein.


         Durch das jeweils für einen ganzen Tag geltende Verbot der Speiseneinnahme, erkennt der Gläubige erst recht das Wesen der Gnade. Die Gaben, auf die zu verzichten ist, sind nicht sein Eigentum. "Es steht mir nicht zu, sie ohne Weiteres zu verzehren." So ungefähr drückt er in Gedanken den Dank an den spendenden eigentlichen Eigentümer aus. "Sie sind ja Vermögen eines Anderen. Von diesem werden sie uns gewahrt. So warte ich auf den Befehl oder die Zustimmung dieses Eigentümers, um sie zu verzehren."
         Solcherart erhält das Fasten die Funktion eines Schlüssels zur fällig gewordenen Dankbarkeit.


         Der dritte Aspekt:

Von den vielen Ergebnissen des Fastens. die sich auf das soziale Leben des Menschen vorteilhaft auswirken, sei hier eines angeführt. Die Menschen sind in Bezug auf ihre Unterhaltsmöglichkeiten verschiedenartig erschaffen. In Anbetracht dieser Verschiedenheit fordert Allah die Reichen auf, den Armen zu helfen. Die Reichen sind sich aber erst dann ihrer Verantwortlichkeit bewusst, wenn sie am eigenen Leib zu spüren bekommen, was es heißt. hungern zu müssen. Es sind viele eigensüchtige Menschen unter uns, die kaum jemals das Drama des Elends und des Hungers in der Welt erkennen würden, wenn es keine Forderung nach dem Fasten gäbe. In dieser Hinsicht bildet die Liebe, zum Mitmenschen die Grundlage der wahrhaftigen, Dankbarkeit zu Allah. Jedermann kann in der Welt einen Anderen finden, der ärmer ist als er. Seine Pflicht diesem gegenüber ist es, mildtätig zu sein.


         Verzichtet man nicht das eigene Ich zum freiwilligen Fasten, erlegt man sich also auf Grund des religiösen Gebotes keinen Fastenzwang auf, so ist man versucht, die Erfüllung des Gebotes der Liebe und die tätige Hilfe für den Mitmenschen auf die lange Bank zu schieben, oder gar zu unterlassen, oder aber mangelhaft auszuüben. Denn da fehlt noch die selbstgewonnene Erkenntnis des Hungers und der Bitternis des Leidens.


         Der vierte Aspekt:

Betrachten wir einmal das Fasten vom Standpunkt der Diätethik der Seele, so sehen wir, dass ihm auch dies bezüglich viele Vorteile anhaften. Einer davon möge hier erwähnt werden: die Begierden streben danach, frei und ungehindert zu sein. Das ist der Durchschnittsfall bei den meisten Menschen. Sogar die eingebildete Selbstherrlichkeit und ein beliebiges freies Schalten und Walten kommen einem häufig als etwas Selbstverständliches vor. Der Mensch denkt nicht ohne Weiteres daran, sich durch die grenzenlosen Gnaden um ihn herum, erziehen zu lassen. Hat er Vermögen und Macht zusammengerafft und ist er dabei überdies von Gottvergessenheit befallen, so neigt er dazu, in vollen Zügen zu schöpfen. Der Gedanke an die Herkunft der in Anspruch genommenen Gnaden liegt ihm fern. Er verschlingt alles, was ihm gut und bekömmlich vorkommt, und zwar in einer Art, die sich von jener der Tiere kaum unterscheidet. Nun begreift im Monat Ramadan der tätige Gläubige, ob reich oder arm, dass er nicht Eigentümer der begehrten Dinge ist, sondern dass vielmehr er selbst das Objekt eines Eigentumsverhältnisses ist. Er ist von Natur aus nicht ganz frei, sondern verknechtet. Ist der Herr damit nicht einverstanden, so vermag die Menschenseele nicht einmal die einfachsten Bewegungen zu tätigen. Es vermag die Hand nicht das Wasser zu erreichen. Die eingebildete Selbstherrlichkeit bricht zusammen, die Knechtschaft tritt klar zu Tage. Nun beginnt die Seele erst, die Dankbarkeit zu empfinden, die ihre ureigene Aufgabe ist.


         Der fünfte Aspekt:

Gehen wir daran, den Wert des Ramadanfastens in moralischer Hinsicht zu ermitteln, wollen wir also konkret feststellen, bis zu welchem Grade der Ramadan die Gläubigen von fragwürdigen Planungen und offenen Missetaten abhält, so erkennen wir bald eine Reihe von positiven Seiten, die diesem Fasten innewohnen. Hier nur einige Bemerkungen darüber: Die menschliche Seele wird viel zu leicht nachlässig. Sie verkennt leicht ihre Ohnmacht, ihre unsagbare Armut und ihre Mangelhaftigkeit. Sie will sie nicht sehen. Der Mensch denkt ungern daran, dass er schwach ist. Es entgeht ihm auch leicht, wie sehr seine Vergänglichkeit sich tagtäglich auf seinem Gesicht widerspiegelt und wie stark er infolge verschiedener Unbill dem Verfall nahe steht. Er fühlt sich vielmehr wie aus Stahl, handelt so, als ob er unsterblich wäre und klammert sich mit beiden Händen an die Güter der Welt. Mit Gier und ungezähmter Leidenschaft stürzt er sich auf die Genüsse, die sich ihm bieten. Alles, was ihm bekommt und was ihm scheinbare Vorteile einbringt, fesselt seine Aufmerksamkeit. Dabei vergisst er den Schöpfer, der ihn mit grenzenloser Güte umgeben hat und der ihn leben und gedeihen lässt. Das Fazit eines Treibens und die letzten Dinge liegen nicht in seinem Blickfeld. Nicht selten wälzt er sich, vom Genuss geblendet, im Morast der Unsitte und Bosheit.
 
          Das Ramadanfasten lässt alle, selbst die Nachlässigsten und Starrköpfigsten, ihre Schwächen, Ohnmacht und Armseligkeit erkennen. Der Hunger treibt sie, an ihren Magen und seine Bedürfnisse zu denken. Sie beginnen zu begreifen, in welch hohem Maße ihr Körper schwach und anfällig ist. Dem Fastenden wird klar, wie sehr er selbst des Mitleids und der Güte bedarf. So beginnt er die pharaonische Selbstherrlichkeit in sich zu bezwingen und in Anbetracht der erkennbaren, vollkommenen Ohnmacht bei Allah Zuflucht zu suchen. Er bereitet sich vor, mit dankbarem Herzen an der Schwelle der großen Gnade anzuklopfen, es sei denn, dass sein Herz infolge seiner Gottvergessenheit schon wie vom Rost angenagt ist.


         Der sechste Aspekt:

Das Fasten im Monat Ramadan ist auch deshalb bedeutungsvoll, weil es in jener Zeit fällt, in der der Qur'an geoffenbart wurde. So sind dies die Tage an denen an die islamischen Offenbarung gedacht wird. Schon aus diesem Grunde gehört es sich, die niederen Triebe zu bekämpfen. Die göttliche Offenbarung verdient einen schönen Empfang. Durch den Verzicht auf Speise und Trank gleichen sich die Gläubigen gewissermaßen den Engeln in. Sie rufen das Erlebnis der ersten Muslime, wach, die verheißungsvoll auf das göttliche Wort warteten Es ist so, als ob sie das Entstehen des Islam von neuem miterlebten und aus dem Munde des Gesandten Gottes die Verkündigung vernahmen. Die ganze Gemeinde erlebt einen erwartungsvollen, heiligen Zustand, als ob der Engel Gabriel oder der ewige Sprecher ihnen direkt Botschaften zukommen ließe. Der Gläubige selbst wird zum Dolmetscher, der den Qur'an weiter gibt und das Geheimnis seiner Offenbarung lüftet.


         Im Monat Ramadan verwandelt sich die islamische Welt gewissermaßen in eine Moschee. Sie wird zu einem gewaltigen Gebetshaus, in dem all überall die Rezitatoren (Hafiz), umgeben von vielen Millionen Menschen, die himmlische Botschaft verkünden. Jeder, der will, kann sie vernehmen. In jedem Ramadan wird in glänzender, strahlender Weise das qur'anische Wort be-stätigt: "Der Monat Ramadan, in dem der Qur'an herabgesandt wurde." Der Ramadan beweist, dass er der Monat des Qur'an ist. Die Mitglieder dieser gewaltigen Gemeinschaft lauschen den Vorträgen der Hafiz.


         Manchen von ihnen ist die fromme Hingebung und Begeisterung anzumerken. Andere lesen still, jeder für sich. Jene Einzelgänger, die sich auch in dieser heiligen Situation ihren Trieben hingeben und sich durch Essen oder Trinken dieser lichtvollen Haltung entziehen, rufen verständlicherweise mit diesem hässlichen Tun den Ärger und die Verachtung der Gemeinschaft hervor. Aber nicht nur ihre nähere Umgebung findet sie verachtenswert, sie haben die ganze islamische Welt gegen sich.


         Der siebente Aspekt:

Die Menschen kommen in diese Welt, säen und treiben Handel und werden im Jenseits die Fruchte ihrer Arbeit ernten. Auch diesbezüglich wirft das Ramadanfasten reiche Ernte ab. Einer seiner Vorzüge ist folgender:


         Die guten Taten, die im Ramadan gesetzt werden, werden von Gott tausendfach vergolten. Nach einem Hadith bringt jeder Qur'anbuchstabe zehn Pluspunkte bei Gott ein. Im Ramadan sind es nicht zehn sondern tausend. Der Gotteslohn für die gelesenen Our'anstellen, wie für Ayat-al Kursi, wird im Ramadan vertausendfacht. Ihre Lesung zu dieser Zeit ist gottgefälliger als an den Freitagen. Ja in der Laylat-u1 Qadr (der Nacht des göttlichen Ratschlusses, das ist voraussichtlich die 27. Nacht des Monats Ramadans) ist sie Gott dreißigtausendfach wohlgefälliger. In der Tat gleicht jeder Buchstabe einem ganzen Qur'an, der dreißigtausend Früchte hervorbringt, wie der leuchtende Baum der Glückseligkeit (Secere-i Tuba). Auf diese Weise können die Gläubigen im Monat Ramadan Millionen von Früchten ernten.


         Nun komm und beteilige dich an diesem heiligen, glückbringenden Handel. Bedenke, welch großem Schaden Jene sich aussetzen, die den Wert dieser Buchstaben nicht begreifen.


         Der heilige Ramadan ist also ein Markt- und Handelsplatz für das Jenseits Da ist der Boden am fruchtbarsten, um den Samen zu setzen, damit die Ernte im Jenseits gut ausfalle. Er ist wie der Frühlingsregen, der die Samen zum Leben erweckt. Er ist wie die glänzendste Parade der Menschheit, veranstaltet zu Ehren ihres göttlichen Herrschers. Da der Ramadan dies ist und dies sein soll, ist der Gläubige verpflichtet, sich nicht gehen zu lassen, sondern den tierischen Begierden die Stirn zu bieten. So befreit er sich zeitweise vom Tierischen, erklimmt die Regionen des Engelhaften. Da er an einer guten Aufnahme im Jenseits interessiert ist, unterdrückt er freiwillig vorübergehend seine diesseitigen Bedürfnisse. Mit dem Fasten entsteht also eine Art Widerschein der Ewigkeit.


         Der heilige Monat Ramadan trägt fürwahr schon in dieser vergänglichen Welt, schon in diesem kurzen irdischen Leben ein ewiges, unvergängliches Leben in sich, das es zu gewinnen gilt.


         Ein einziger Ramadan kann uns die Früchte eines achtzigjährigen Lebens einbringen. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Qur'an ist die Laylat-ul Qadr besser als tausend Monate. Das ist ein sicherer Beweis. In der Tat lässt ein König im Verlauf seiner Regierungszeit jährlich oder gelegentlich, z.B. anlässlich seiner Thronbesteigung Festtage ausrufen und eine glanzvolle Feier veranstalten. Er verkündet eine allgemeine Amnestie, zeigt sich in der Öffentlichkeit, gewährt Privataudienzen und ehrt die treuen und verdienten Bürger seines Reiches durch ein Gastmahl, Genauso hat auch der König, der in Seiner Majestät und Herrlichkeit über die achtzehntausend Welten herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit in diesem heiligen Monat Ramadan den hochehrwürdigen Qur'an als einen koniglichen Erlass für diese achtzehntausend Welten herabgesandt. Darum verdient es dieser Monat mit Recht, ein besonderes Fest Gottes, eine Messe des Herrn und eine Versammlung und Vereinigung der Seelen genannt zu werden. Sicherlich verdient der Ramadan die Qualifikation eines göttlichen Festes, einer göttlichen Schau und eines geistigen Konzils.


         Gemäß dieser Natur des Ramadans war er angebracht, die Menschen aufzufordern, zu dieser Zeit zu fasten, um sich dadurch wenigstens eines Teiles ihrer niederen, physischen Bedürfnisse zu enthalten. Das vollkommenste Fasten heißt, jeglichem Hungergefühl und allen Begierden, den Organen, wie der Magen, den Augen, den Ohren, der Zunge, aber auch dem Herzen, der Phantasie und den Gedanken ein Fasten aufzuerlegen. Mit anderen Worten: allen verbotenen und unbedeutenden Dingen aus dem Wege zu gehen und jedes Organ auf eine besondere Funktion - den Gottesdienst - zu orientieren, seine Zunge von der Lüge, von übler Nachrede, von groben und hässlichen Worten zu bewahren und in dieser Form ein Fasten zu halten und diese Zunge stattdessen darin zu üben, den Qur'an zu lesen, die Heiligen Namen Gottes immer wieder zu rezitieren, Ihn zu lohen, zu rühmen und zu preisen, Gebete zu verrichten und Allah um Verzeihung anzurufen; die Augen vor unerlaubten Dingen zu bewahren und sie stattdessen auf lehrreiche Dinge zu lenken, das Ohr vom Hören schlechter Dinge abzuwenden und es auf schöne und wahrhaftige Reden zu richten, den Qur'an anzuhören - dies alles ist eine Art Fasten.


         Weil aber nun die Verdauungsorgane die größte Industrieanlage in unserem Körper darstellen, ist es umso leichter, all die anderen kleinen Werkstätten zur Nachfolge anzuregen, hat man erst einmal diese große Anlage stillgelegt und ihre Arbeiter in Urlaub geschickt.


         Der achte Aspekt:

Das persönliche Dasein des Menschen hat vom Ramadanfasten ebenfalls viele Vorteile. Eines der wirksamsten Heilmittel in der Gestaltung eines gesunden Lebens ist die materielle und geistige Diät. Läßt der Mensch bei der Einnahme von Speisen seinen Begierden freien Lauf, so schädigt er nicht nur seinen Körper, auch seine Seele leidet darunter, weil er der Maßlosigkeit nicht mehr Herr werden kann und das Erlaubte von dem Verbotenen nicht zu unterscheiden vermag. Einem solchen Menschen fällt es mit der Zeit schwer, sich nach den feinen Empfindungen des Herzens zu richten und dem Geist zu folgen. Die Gier übermannt ihn, so daß er sie nicht mehr bezwingen kann.


         Im Ramadan gewöhnt sich der Gläubige mit Hilfe des Fastens an eine Art Diät. Er befleißigt sich einer Art Disziplin und lernt, Befehle zu befolgen. Er beugt den Krankheiten vor, indem er seinen armen Magen keinen Überlastungen aussetzt und ihn schon wieder füllt, noch bevor er überhaupt leer geworden ist. Dadurch, daß er sich einem Befehl zu unterwerfen 1ernt, befähigt er sich, die Befehle der Vernunft und des Gesetzes leichter zu befolgen. Er bemüht sich somit, das Leben seiner Seele nicht zu ruinieren.


         Der überwiegende Teil der Menschheit wird bedauerlicherweise immer noch zeitweise von Hungerkatastrophen heimgesucht. Um den Hunger in den kritischen Situationen einigermaßen erfolgreich bezwingen zu können, bedarf es der Geduld, des Trainings und der Selbstdisziplin. Wenn nun der Muslim oder Muslima fünfzehn Stunden lang tagelang freiwillig hungert, so ist da eine ausgezeichnete Schule der Geduld, die mit der Zeit zur Fähigkeit führt, Hunger und andere leiden zu ertragen. Nimmt der Gläubige vor der Morgendämmerung keine Speisen ein, so dauert dieses tägliche Training im Ramadan volle 24 Stunden. Mit anderen Worten, das Ramadanfasten ist auch ein Hilfsmittel, um die Naturkatastrophen heil überstehen zu können. Denn bei Mangel an Fähigkeit, die Leiden in Geduld und Ruhe zu ertragen, wird manche Tragik doppelt so schwer empfunden.


         Die zentrale "Fabrik" im Körper, der Magen, hat eine zahlreiche Belegschaft und die erwähnten Nebeneinrichtungen stehen ihr zur Verfügung. Wenn nun diese Belegschaft und die erwähnten Nebeneinrichtungen infolge Urlaubs keinen Dienst mehr versehen, sind sie praktisch dem tyrannischen Regime des Magens entschlüpft. Sie können in sich also in dieser Zeit sich selbst widmen. Sonst sind sie sozusagen ständig unter Volldampf: immer unter Druck immer vom Lärm und vom Dunst jener "Fabrik" umgeben. Sie beansprucht ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie betäubt geradezu ihre "Sinne". Nun werden für eine Zeitlang diese Funktionen und ihre Einwirkungen ausgeschaltet. Es mag in dieser Tatsache begründet sein, daß geistig hochstehende und von Gott begnadete Menschen zu ihrer Vervollkommnung sich dieser Disziplin zu unterziehen pflegten. Sie aßen wenig und tranken wenig. Im Zuge des Fastens beginnt jene "Belegschaft" zu begreifen, daß sie nicht allein wegen der "Fabrik" in der Welt sei. Auch die anderen Körpereinrichtungen hören im Ramadan auf, sich mit niederen Arbeiten jener "Fabrik" zu befassen, sie beginnen die Beschäftigung mit geistigen Angelegenheiten auszukosten. Ihre Blicke sind in jene Richtung gelenkt. Dadurch läßt sich erklären, daß im Monat Ramadan die Gläubigen vielfach verschiedenen Erleuchtungen, Gnaden und geistigen Freuden eröffnet werden - dies entsprechend dem jeweiligen Grad ihrer geistigen Entwicklung. Alle innerlichen und äußerlichen Organe des Menschen, Leib und Seele, Herz, Verstand und Gemüt, die geheimnisvollen, inneren feinen Kräfte des Geistes werden im Fasten neu wieder belebt und gestärkt. Trotzdem sich der vor Hunger leere Magen zusammenzieht und knurrt, füllt sich die Seele mit innerer Freude.


         Der neunte Aspekt:

Das Ramadanfasten zerstört eingebildete Selbstherrlichkeit und stärkt das Bewusstsein des Menschen von seiner Abhängigkeit von Gott. Die Triebe sind von sich aus nicht geneigt, ihren Herrn zu erkennen. Sie wollen pharaonisch selbst herrschen. Wie sehr sich der Mensch auch bemühen mag, ihnen eine andere Verhaltensweise aufzuzwingen, sie bleiben doch ihrem Wesen treu. Mit dem Hunger wird jedoch die ihre Grundneigung bezwungen. Im Ramadan wird also ein direkter Schlag gegen die Triebhaftigkeit und ihr pharaonisches Verhalten geführt. Ihre Schwäche, Ohnmacht und Armseligkeit werden aufgedeckt. Im Fasten wird der Mensch wieder darüber belehrt, daß er ein Diener und Anbeter seines Herrn ist.


         Im Hadith begegnen wir folgender Überlieferung: Gott befragte die Begierde: "Was bin ich, was bist du?" Die Begierde sprach: "Ich bin ich, Du bist Du!" Gott unterzog sie darauf einer Strafe. Sie wurde in die Höllegeworfen. Dann stellte Er wieder dieselbe Frage. Die erwiderte auch diesmal: "Ich bin ich, Du bist Du." Welcher Strafe Er sie auch unterzog, sie ließ von ihrem Trotz nicht ab. Dann bestrafte Er sie mit Hunger. Nach einer Zeit befragte Er sie von neuem: "Man ana wa ma anta?" (Wer bin ich und was bist du?) Nun sprach die Begierde: "Du bist mein gnadenvoller Herr, ich hingegen bin Dein schwacher Diener."

 

 


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